Maria-Sibylla-Merian-Gesamtschule – Nur ein neuer Name oder ein Blick auf die Vision einer Schule?
Kaum habe ich mich als neue Kollegin daran gewöhnt, mich bei der Entgegennahme eines Telefonats mit „Städtische Gesamtschule Kohlscheid“ zu melden, erfahre ich, dass die Schule ab dem 01. Oktober 2018 den Namen Maria-Sibylla-Merian-Gesamtschule tragen wird. Mein erster Gedanke: „Hätte es nicht ein etwas einfacherer Name sein können?“. Dann, am Wochenende, mit einer Tasse Tee auf der Terrasse sitzend, habe ich Zeit und Muße, mich näher mit dem neuen Namen auseinanderzusetzen.
„Das Kind braucht einen Namen.“
Ich habe einiges nachzuholen. Schließlich hat sich die Schulgemeinschaft bestehend aus Lehrern, Schülern und Eltern ein Jahr lang intensiv mit dem Thema Namensgebung beschäftigt. Ich denke zurück an meine persönlichen Namensgebungsprozesse. Dreimal haben mein Mann und ich uns damit beschäftigt, was wohl der richtige Name für unser Kind sein würde. Wie die meisten Eltern in Deutschland haben wir den Namen bereits vor der Geburt ausgewählt. Natürlich haben wir uns Gedanken über den Klang des Namens gemacht. Aber war uns nicht vor allem wichtig, welche Botschaft mit dem Namen transportiert wird? Ich erinnere mich an die Vornamens-Ratgeber, die wohlmeinende Hinweise beinhalten, welche Botschaft mit welchem Namen verbunden ist. In einem dieser Ratgeber war zu lesen, dass der Name drei grundlegende Funktionen hat: Der Name dient der Identifikation, lässt das Kind Teil einer bestimmten Kultur sein und gibt ihm eine Richtung im Leben vor. Was für Kinder gilt, scheint auch für Unternehmen zu gelten. So schreibt der Autor Alexander Jürries in seinem Leitfaden „Die Macht der Namen – Namensfindung für Unternehmen und Produkte“: „Der Name eines Unternehmens signalisiert Credo und Auftrag, Position und Ziel, Unternehmensidentität und -kultur.“
In manchen Kulturen legen die Eltern den Namen erst fest, nachdem das Kind ein paar Tage auf der Welt ist. Es wird ein Blick auf das Kind geworfen, seine erste Entwicklung betrachtet und seine Persönlichkeit bei der Namensgebung mit einbezogen. Ich komme zu dem Schluss, dass es so auch bei der Maria-Sibylla-Merian-Gesamtschule gewesen sein könnte. Die noch im Aufbau befindliche Schule hat ihre ersten Entwicklungsschritte gemacht, jetzt wird ein Blick in die Zukunft geworfen und mit dem Namen die Richtung der Schulentwicklung verfestigt.
Schulentwicklung – Leitbilder und Visionen
Schulentwicklung bedient sich immer verschiedener Werkzeuge. Dazu gehören sehr konkrete Instrumente wie die Jahresplanung oder das Schul- bzw. Entwicklungsprogramm (Abb.). Beide haben eine mehr oder weniger kurze Haltbarkeit und müssen ständig bearbeitet und neu ausgerichtet werden. Beständiger ist da das Leitbild der Schule, welches wie ein Kompass dabei hilft, im Schulalltag zu prüfen, ob der aktuell eingeschlagene Weg tatsächlich in die Richtung des angestrebten Ziels führt. Welches Ziel oder welche Mission eine Schule verfolgt, ergibt sich aus der Vision der Schule. Leitbilder sind also ein (schriftlich) fixiertes Bild der Gegenwart und der nahen Zukunft, während die Vision einen Ausblick in eine angestrebte langfristige Zukunft bietet.
Den Namen trägt eine Schule auf lange Zeit, in der Regel „ihr Leben lang“. Die Namensgebung der Schule lässt somit einen Rückschluss auf die Vision der Schule zu. Zugleich gibt sie Auskunft über die aktuelle Position der Schule, das aktuell orientierungsweisende Leitbild. Es macht also Sinn, sich mit dem Namen und der dahinterstehenden Vision näher zu beschäftigen, möchte man die Aktivitäten und Konzepte der Schule verstehen.
Maria Sibylla Merian
Irgendwo in den Vernetzungen meiner Neuronen existiert eine Verknüpfung zwischen dem Namen Maria Sibylla Merian und meinen Unterrichtsfach Biologie. Zunächst einmal naheliegend, dass eine Schule, die in ihrem Schulprogramm einen Schwerpunkt auf den MINT-Bereich setzt, eine Person aus dem naturwissenschaftlichen Bereich als Namensgeber wählt. Aber es gibt viele hervorragende Naturwissenschaftler/innen, die als Namenspatron dienen könnten. Wer genau war Maria Sibylla Merian, die im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert lebte und was machte ihr Leben und Wirken so besonders, dass sich daraus auf die Vision einer Schule schließen lässt?
Eine kurze Recherche ergibt drei Übersichtsartikel, die allen mit einem Interesse an dem Menschen Maria Sibylla Merian ans Herz gelegt seien:
Knoke, Mareike: Maria Sibylla Merian: Die selbstbewusste Schmetterlingsfrau. Spektrum der Wissenschaft/Spektrum.de, 13.1.2017
(https://www.spektrum.de/news/die-selbstbewusste-schmetterlingsfrau/1435038)
Schmitt, Stefan: Vorbilder: Maria Sibylla Merian. 2.11.2009, DIE ZEIT/zeit.de, 12.11.2009 Nr. 47
(https://www.zeit.de/2009/47/Vorbilder-Merian)
Wettengl, Kurt: Maria Sibylla Merian – Künstlerin und Naturforscherin zwischen Frankfurt und Surinam. Spektrum der Wissenschaft/Spektrum.de 12/1997, Seite 120
(https://www.spektrum.de/magazin/maria-sibylla-merian-kuenstlerin-und-naturforscherin-zwischen-frankfurt-und-surinam/824331)
Im Fokus steht die Entwicklung, nicht die Kategorisierung
Maria Sibylla Merian wurde 1647 als Tochter des Verlegers und Kupferstechers Matthäus Merian in Frankfurt am Main geboren. Sie wuchs in einer wohlhabenden, gutbürgerlichen Familie auf. Bereits mit 13 Jahren begann sie, sich für Raupen, Schmetterlinge und andere Insekten zu interessieren. Insekten wurden erst seit dem späten 16. Jahrhundert überhaupt wissenschaftlich erforscht. Anders als bei ihren männlichen Kollegen stand bei Maria Sibylla Merian aber nicht die Kategorisierung der von ihr beobachteten Tiere im Mittelpunkt ihres Interesses. Sie war vielmehr am Lebenszyklus der Tiere interessiert. Sehr genau beobachtete und zeichnete sie den Prozess der Entwicklung vom Ei zur Raupe zur Puppe bis zum Schmetterling.
Leitbild der Schule © 2015
Leitbild der Schule © 2015
In den Leitsätzen der Schule findet sich der Blick auf die Entwicklung wieder. Die Schule sieht sich als Schule im Aufbau: „Wir entwickeln uns gemeinsam“, „Aufbau bedeutet Entwicklung, Dynamik und Engagement aller Beteiligten.“ – so heißt es im Schulprogramm. Diese Grundidee beizubehalten, Schule als einen Ort dauerhafter Entwicklung zu begreifen, in dem nicht nur der Entwicklungsprozess der einzelnen Schüler genau im Blick bleibt und gefördert wird, sondern auch das Gesamtsystem sich stetig entwickelt – auch wenn der äußere Auf- und Umbau abgeschlossen ist – ist eine erstrebenswerte Vision.
Metamorphosis of the silkworm
Studienbuch der Maria Sibylla Merian
Metamorphosis of the silkworm
Studienbuch der Maria Sibylla MerianNur mit dem richtigen „Futter“ gelingt die Entwicklung
Zur Zeit von Maria Sibylla Merian gab es auch andere Insektenforscher. Sie aber war die erste, die den Zusammenhang zwischen einem Tier und der Futterpflanze erkannte. Sie stellte fest, dass sich bestimmte Raupenarten nur mit dem für sie geeigneten Futter entwickeln und ihre Metamorphose vollziehen können. Gibt man der Raupe nicht das richtige Futter, so wird aus ihr nie der Schmetterling, der in ihr steckt.
Erst kürzlich habe ich das amüsante Buch „Von Larven und Puppen: Soll man Kinder wie Menschen behandeln?“ gelesen. Darin behauptet der niederländische Essayist und Biologe Midas Dekkers „Das Kind unterscheidet sich vom Erwachsenen so sehr wie die Raupe vom Schmetterling.“. Er hält es für einen Fehler, Kinder einfach als kleine Menschen zu betrachten. Vielmehr müssen sie ähnlich wie der Schmetterling verschiedene Entwicklungsstadien – die von Erwachsenen nicht immer als angenehm empfunden werden, wenn man z.B. an das Trotzalter oder die Pubertät denkt – durchlaufen. Für diese Entwicklung benötigen sie die richtige Unterstützung, das richtige Futter.
Banane, Blüte und Fruchtstand
Metamorphosis insectorum Surinamensium
Banane, Blüte und Fruchtstand
Metamorphosis insectorum SurinamensiumSchmetterlinge haben es irgendwie einfach. Obwohl der Schmetterling eine völlig andere Nahrung als die Raupe hat, weiß er genau, auf welche Blätter er seine Eier legen muss, damit sich die Raupe entwickeln kann. Da haben es Eltern schwerer. Sie müssen beispielsweise für ihr Kind die richtige Schule auswählen, die ihrem Kind das bietet, was es braucht, um sich entfalten und entwickeln zu können, und anders als bei den Schmetterlingen gibt es keine genetische Veranlagung in ihnen, die ihnen bei dieser Entscheidung weiter hilft.
Wieder kann man einen Blick auf die Vision der Schule werfen. Jedes Kind in seiner Individualität wertzuschätzen und seine Persönlichkeit zu stärken, ihm genau die Umgebung, das „Futter“, zu geben, welches es für seine Entwicklung braucht, ist im deutschen Schulsystem schwer erreichbar, aber als Vision hoch anzusetzen.
Naturforscherin und Künstlerin
Naturwissenschaft und Kunst sind Disziplinen, in denen unterschiedlich gedacht, gearbeitet und beobachtet wird. Oft ist ihre Herangehensweise an Fragestellungen sogar völlig konträr. Eine Naturforscherin wie Maria Sibylla Merian, die als Frau in der damaligen Zeit nicht nur die engen Grenzen ihrer gesellschaftlichen Stellung, sondern auch die zweier so unterschiedlicher Fachrichtungen wie Naturwissenschaften und Kunst gesprengt und die aus der Vereinigung von beidem Neues geschaffen hat, war damals revolutionär. Sie als Namenspatronin auszuwählen ist visionär.
Die Schule will offensichtlich trotz – oder mit? – einer Schwerpunktsetzung im MINT-Bereich ihren Schülerinnen und Schülern kein starres Denkkorsett in naturwissenschaftlicher Herangehensweise vermitteln. Wie in ihrem Leitbild dargestellt, will sie vielmehr Ganzheitliches Lernen ermöglichen: „Wir fördern vielfältige Erfahrungen auf sportlicher, praktisch-technischer und musisch-kreativer Ebene.“.
Der Zugang zu diesem Lernen soll allen in gleicher Weise möglich sein. Partizipation als eine Selbstverständlichkeit, die keinen zurücklässt, die wertschätzenden Umgang und eine gleichberechtigte Kommunikation als grundlegend voraussetzt. Ein wertvolles Gut, für das Maria Sibylla Merian zu ihrer Zeit als Frau hart kämpfen musste.
Ich komme zu dem Schluss: Einfach ist der neue Schulname nicht, aber gut geeignet, um als Polarstern einer Schule den Weg zu weisen.